Wenn wir von spirituellen Traditionen sprechen, in denen der Atem eine zentrale Rolle spielt, denken viele zunächst an Yoga oder Qigong. Doch auch im Sufismus – dem mystischen Weg des Islam – ist der Atem ein entscheidendes Element, um den Geist zu beruhigen und eine tiefere Verbindung zum Göttlichen herzustellen. Sufis betrachten den Atem nicht nur als lebenswichtigen, körperlichen Vorgang, sondern als spirituelles Tor, durch das die Seele zu Gott findet.
Eine der bekanntesten Sufi-Praktiken im Umgang mit dem Atem ist das Prinzip Hosh dar Dam (persisch für „Achtsamkeit bei jedem Atemzug“). Besonders in der Naqshbandi-Tradition wird gelehrt, dass jeder einzelne Atemzug mit Bewusstsein begleitet werden sollte.
Dieses achtsame Atmen hilft, den Geist von störenden Gedanken zu reinigen und das Herz für göttliche Inspiration zu öffnen.
Ein zentrales Element der Sufi-Praxis ist der Dhikr („Erinnerung“ oder „Gedenken“ an Gott), bei dem Gottes Namen oder bestimmte Verse rezitiert werden. Häufig geschieht dies in Gruppen, begleitet von rhythmischen Bewegungen oder Gesang. Der Atem fungiert hier als Taktgeber für die Rezitation:
Das gezielte Verbinden von Wort und Atem erleichtert den Zugang zu einer transzendenten Dimension, in der sich das Ego auflöst und nur noch die Gegenwart Gottes wahrgenommen wird.
Eine besonders bekannte Sufi-Tradition sind die Mevlevi-Derwische, oft auch als „tanzende Derwische“ bezeichnet. In ihrer Praxis des Sema – einer rituellen Zeremonie mit drehenden Bewegungen – ist der Atem integraler Bestandteil:
Dieses Zusammenspiel aus Musik, Drehung und Atem führt zu einer tiefen Harmonie zwischen Körper, Geist und Seele.
Der Sufi-Meister Hazrat Inayat Khan (1882–1927) betonte in seinen Lehren wiederholt die Verbindung von Klang und Atem. Er sah den Atem als „den unsichtbaren Lebensfaden“, der uns mit der göttlichen Quelle verbindet. Bei seinen Schüler*innen legte er besonderen Wert darauf, den Atem so zu schulen, dass Herz und Stimme im Einklang sind:
In dieser Tradition zeigt sich deutlich, wie eng Atem, Klang und Spiritualität im Sufismus verflochten sind.
Sufis betrachten jeden Atemzug als Chance, sich an das Göttliche zu erinnern. Diese Perspektive nimmt dem Alltag das Profane und lässt jeden Moment zum potenziellen Ort der Begegnung mit Gott werden. Dabei geht es nicht nur um Ekstase, sondern auch um tiefe, stille Hingabe.
Der Atem ist im Sufismus weit mehr als nur ein physiologischer Prozess: Er ist ein Geschenk Gottes, ein Band zwischen Mensch und Schöpfer. Praktiken wie Hosh dar Dam, Dhikr oder der Sema-Tanz der Mevlevi zeigen eindrücklich, wie der Atem zum Schlüssel für spirituelles Wachstum und innere Heilung werden kann. Während uns im Alltag oft die Leichtigkeit und Achtsamkeit beim Atmen verloren geht, erinnern uns die Sufis daran, dass jeder Atemzug uns dem göttlichen Mysterium ein Stück näherbringen kann – und damit zu tieferer Ruhe, Liebe und Einsicht führt.