Die mystische Kraft des Atems in der Sufi-Tradition

Wenn wir von spirituellen Traditionen sprechen, in denen der Atem eine zentrale Rolle spielt, denken viele zunächst an Yoga oder Qigong. Doch auch im Sufismus – dem mystischen Weg des Islam – ist der Atem ein entscheidendes Element, um den Geist zu beruhigen und eine tiefere Verbindung zum Göttlichen herzustellen. Sufis betrachten den Atem nicht nur als lebenswichtigen, körperlichen Vorgang, sondern als spirituelles Tor, durch das die Seele zu Gott findet.

Hosh dar Dam: Achtsamkeit im Atem

Eine der bekanntesten Sufi-Praktiken im Umgang mit dem Atem ist das Prinzip Hosh dar Dam (persisch für „Achtsamkeit bei jedem Atemzug“). Besonders in der Naqshbandi-Tradition wird gelehrt, dass jeder einzelne Atemzug mit Bewusstsein begleitet werden sollte.

  • Bewusste Ein- und Ausatmung: Die Sufis üben sich darin, jeden Atemzug als Geschenk Gottes zu erkennen. Auf diese Weise entsteht eine innige Verbindung zum Augenblick.
  • Spirituelles Mantra: Häufig wird mit dem Atem auch das islamische Glaubensbekenntnis „La ilaha illallah“ („Es gibt keinen Gott außer Gott“) verknüpft – beispielsweise in Gedanken beim Einatmen „La ilaha“ und beim Ausatmen „illallah“. Dadurch wird die Atembewegung mit einer ständigen Hinwendung zum Göttlichen aufgeladen.

Dieses achtsame Atmen hilft, den Geist von störenden Gedanken zu reinigen und das Herz für göttliche Inspiration zu öffnen.


Dhikr: Die Rezitation Gottes im Rhythmus des Atems

Ein zentrales Element der Sufi-Praxis ist der Dhikr („Erinnerung“ oder „Gedenken“ an Gott), bei dem Gottes Namen oder bestimmte Verse rezitiert werden. Häufig geschieht dies in Gruppen, begleitet von rhythmischen Bewegungen oder Gesang. Der Atem fungiert hier als Taktgeber für die Rezitation:

  1. Kollektives Atmen: Beim gemeinsamen Dhikr synchronisieren sich die Teilnehmenden oft unbewusst im Atemrhythmus. Das erzeugt ein kraftvolles Feld gemeinsamer Hingabe.
  2. Intensive Herzensverbindung: Wiederholt sich das göttliche Wort mit jedem Atemzug, wird nicht nur das Bewusstsein fokussiert, sondern auch das Herz in Schwingung versetzt. Viele Sufis berichten von einem tiefen Gefühl der Einheit, das während des Dhikr entsteht.

Das gezielte Verbinden von Wort und Atem erleichtert den Zugang zu einer transzendenten Dimension, in der sich das Ego auflöst und nur noch die Gegenwart Gottes wahrgenommen wird.


Die Rolle der Musik und des Atems: Sema bei den Mevlevi-Derwischen

Eine besonders bekannte Sufi-Tradition sind die Mevlevi-Derwische, oft auch als „tanzende Derwische“ bezeichnet. In ihrer Praxis des Sema – einer rituellen Zeremonie mit drehenden Bewegungen – ist der Atem integraler Bestandteil:

  • Atem als Anker: Während des Drehens müssen die Derwische eine tiefe, gleichmäßige Atmung beibehalten, um nicht von Schwindel oder Unruhe überwältigt zu werden.
  • Hingabe an das Göttliche: Der Tanz, begleitet von Ney-Flöte und Gesang, lenkt die Aufmerksamkeit auf das Herz. Der gleichmäßige Atem gibt den Takt für die Bewegung vor und fördert eine Trance, in der sich der Einzelne göttlicher Liebe öffnet.

Dieses Zusammenspiel aus Musik, Drehung und Atem führt zu einer tiefen Harmonie zwischen Körper, Geist und Seele.


Hazrat Inayat Khan und die Mystik des Klanges und Atems

Der Sufi-Meister Hazrat Inayat Khan (1882–1927) betonte in seinen Lehren wiederholt die Verbindung von Klang und Atem. Er sah den Atem als „den unsichtbaren Lebensfaden“, der uns mit der göttlichen Quelle verbindet. Bei seinen Schüler*innen legte er besonderen Wert darauf, den Atem so zu schulen, dass Herz und Stimme im Einklang sind:

  1. Klangübungen: Durch bestimmte Tonfolgen und Rezitationen lernt man, den Atemfluss zu kontrollieren und gleichzeitig die Energie im Körper zu harmonisieren.
  2. Bewusste Stille: Pausen und Momente der inneren Stille werden genutzt, um Gottes Gegenwart unmittelbar im eigenen Inneren zu erfahren.

In dieser Tradition zeigt sich deutlich, wie eng Atem, Klang und Spiritualität im Sufismus verflochten sind.


Atem als Weg zur Einheit mit dem Göttlichen

Sufis betrachten jeden Atemzug als Chance, sich an das Göttliche zu erinnern. Diese Perspektive nimmt dem Alltag das Profane und lässt jeden Moment zum potenziellen Ort der Begegnung mit Gott werden. Dabei geht es nicht nur um Ekstase, sondern auch um tiefe, stille Hingabe.

  • Transformation: Durch die beständige Achtsamkeit im Atem erfährt man schrittweise eine Verwandlung des Herzens. Egoistische Neigungen treten in den Hintergrund, und das Mitgefühl gegenüber allen Lebewesen wächst.
  • Ganzheitliche Heilung: Viele Sufis sehen eine enge Verbindung zwischen spiritueller Entwicklung und körperlich-seelischer Gesundheit. Der harmonisierte Atem trägt dazu bei, Stress zu lösen und mehr innere Ruhe zu finden.

Fazit

Der Atem ist im Sufismus weit mehr als nur ein physiologischer Prozess: Er ist ein Geschenk Gottes, ein Band zwischen Mensch und Schöpfer. Praktiken wie Hosh dar Dam, Dhikr oder der Sema-Tanz der Mevlevi zeigen eindrücklich, wie der Atem zum Schlüssel für spirituelles Wachstum und innere Heilung werden kann. Während uns im Alltag oft die Leichtigkeit und Achtsamkeit beim Atmen verloren geht, erinnern uns die Sufis daran, dass jeder Atemzug uns dem göttlichen Mysterium ein Stück näherbringen kann – und damit zu tieferer Ruhe, Liebe und Einsicht führt.